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Stille

Roman

Erschienen am 08.09.2008
8,95 €
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783442462223
Sprache: Deutsch
Umfang: 379 S.
Format (T/L/B): 2.6 x 18.7 x 11.7 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Harold Cleaver ist ein erfolgreicher Journalist. Gerade erst hat sein Interview mit dem amerikanischen Präsidenten Schlagzeilen gemacht. Doch leider nicht nur das: Sein Sohn hat ein Buch mit dem vielsagenden Titel "Im Schatten des Allmächtigen" veröffentlicht - mit vernichtenden Enthüllungen über den Vater. Grund genug für Harold, von seinem bisherigen Leben Abschied zu nehmen. Er flieht in ein entlegenes Dorf in Südtirol, in eine Hütte "über der Lärmgrenze", in die Stille. Aber reicht die äußere Stille, um die innere Unruhe zu besänftigen?

Leseprobe

Im Herbst 2004, kurz nach seinem denkwürdigen Interview mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten und dem Erscheinen der in Romanform geschriebenen Autobiografie seines älteren Sohnes, die den unbarmherzigen Titel Im Schatten des Allmächtigen trug, bestieg der Star-Journalist, Fernsehmoderator und Dokumentarfilmer Harold Cleaver in London Gatwick eine Maschine der British Airways nach Mailand-Malpensa, fuhr anschließend mit der italienischen Eisenbahn bis Bruneck in Südtirol und dann mit dem Taxi Richtung Norden in das Dorf Luttach nahe der österreichischen Grenze, von wo aus er sich eine abgelegene Bleibe in den Bergen suchen wollte, um dort die nächsten, wenn auch nicht unbedingt die letzten Jahre seines Lebens zu verbringen. Um dich aus der Verantwortung zu stehlen, war Amandas Kommentar gewesen. Sie ist die Mutter seiner Kinder. Die Verantwortung eines Mannes in meiner Lebensphase, erklärte der bedeutende und übergewichtige Harold Cleaver seiner Partnerin nach dreißig gemeinsamen Jahren, kann höchstens eine finanzielle sein, und in Umsetzung eines nur wenige Stunden alten Entschlusses überschrieb er ihr eine sehr beachtliche Geldsumme, die weder sie noch ihre drei lebenden Kinder im Augenblick dringend brauchten, außer vielleicht der jüngere Sohn Phillip, der ständig Geld brauchte, aber nie etwas annahm. Nachdem Harold Cleaver am nächsten morgen, immer noch leicht benebelt von seinem folgenschweren Schritt, in den Zug nach Gatwick eingestiegen war, schaltete er seine beiden Handys aus. Dies ist nicht einfach eins deiner vielen Projekte, sagte er sich noch einmal. Er saß einem jungen Mann mit CD-Spieler gegenüber, dessen Lippen sich lautlos bewegten. Diesmal willst du nicht, wie bei anderen längeren Reisen, ein Buch schreiben oder einen Dokumentarfilm drehen. Der junge Mann, stellte er fest, hatte einen glasigen Blick. Gott sei Dank hat er mich nicht erkannt. Der CD-Spieler surrte. Das kulturelle Umfeld Südtirols, wie immer es sich auch darstellen würde, sagte sich Cleaver entschlossen, muss weder analysiert noch ironisiert, kritisiert oder gepriesen werden. Eine Tonbandstimme kündigte das Schließen der Türen an. Aus dem Leben in einer einsamen Berghütte musste weder eine Geschichte noch eine Serie werden. Auch kein neues Walden. Der Zug setzte sich in Bewegung. Die Themse lag plötzlich unter ihnen, dann hinter ihnen. Der vertraute Anblick von Südlondon verschwand mit wachsender Geschwindigkeit in der Ferne. Und es geht auch nicht darum, irgendwelche Empfehlungen zu geben, überlegte Cleaver eine Stunde später immer noch, während ihn der Flughafen-Shuttle zum Terminal zwei brachte, oder angeblich gewonnene Erkenntnisse nach Hause zu berichten. Er hatte Glück und bekam ein Ticket für einen unmittelbar bevorstehenden Flug. Kein Gepäck, erklärte er. Nichts. Nichts, murmelte Cleaver noch einmal, als er seinen Sicherheitsgurt festzog, das zur öffentlichen Diskussion beitragen könnte, wird von dieser Reise mitgebracht werden. Nach all den Jahren als prominenter öffentlicher Redner würde er sich nun von dieser Rolle verabschieden. Denn das ist der außergewöhnliche Gedanke, der sich in diesen letzten, von trauriger Berühmtheit und privatem Tumult geprägten Tagen Harold Cleavers bemächtigt hat: Ich muss endlich die Klappe halten. Im Zug von Mailand nach Verona saß Cleaver mit einer jungen Frau im Abteil, die sich in eine Lektüre vertieft hatte, die nach einer fotokopierten Marktforschungsstudie aussah. Sie enthielt Säulendiagramme, und er bemerkte den Zwischentitel Bacino di afflusso. Ihre Augen glitten über das Gedruckte und hielten hier und da zögernd inne, ehe sie mit einer schnellen, raubvogelartigen Handbewegung ein Wort oder einen Teilsatz unterstrich. Etwa alle fünf Minuten schob sie geistesabwesend ein weißes Schultertuch zurück, das immer wieder auf ihre schlanken Arme rutschte, manchmal lächelte sie gedankenverloren oder runzelte die Stirn, und mit ihrer freien Hand wickelte sie bedächtig eine dunkle Haarsträhne um die Leseprobe

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