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Dichtung und Poetik des alten Japan

Fünf Vorlesungen am College de France - Edition Akzente

Erschienen am 13.03.2000
14,90 €
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783446198593
Sprache: Deutsch
Umfang: 148 S.
Format (T/L/B): 1.4 x 20 x 12.1 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

In fünf vielbeachteten Vorlesungen am Collège de France hat Japans bekanntester Dichter, Ooka Makoto, eine Poetik der klassischen japanischen Lyrik entworfen. Früher als in anderen Kulturen entwickelte sich bereits im 9. Jahrhundert eine hochartistische Formensprache, deren Ergebnisse - Tanka, Haiku, Waka und Renga - bis heute nichts von ihrer Unmittelbarkeit und Schönheit verloren haben.

Leseprobe

Das japanische Volkslied des Mittelalters Ryo¯jin hisho¯ und Kangin shu¯ Wer sich mit japanischer Dichtung beschäftigt, widmet seine größte Aufmerksamkeit gewöhnlich den waka und den haikai (oder, gemäß der Terminologie seit Ende des letzten Jahrhunderts, den Tanka und den Haiku) und ebenfalls der modernen freien Verskunst. Viele Japaner unseres Jahrhunderts halten nur diese drei Gattungen für die Grundsubstanz unserer Poesie. Jahrhundertelang, bis zum Ende des 19.Jahrhunderts, hätte eine derart naive, beschränkte, realitätsferne Literaturbetrachtung zweifellos bloß ein schwaches Interesse geweckt. Nach der Ansicht aller Gesellschaftsschichten, sowohl der Aristokratie wie der Kriegerkaste als auch der der buddhistischen Mönche und des Volkes, lag der Hauptakzent auf einer poetischen Form, dem kanshi, das unter dem Einfluß der chinesischen Dichtung entwickelt wurde. Das kanshi galt, selbst unter japanischen Intellektuellen, als das geeignetste lyrische Ausdrucksmittel. Als kanshi wurden nicht nur von Chinesen geschriebene Gedichte bezeichnet, sondern ganz speziell auch solche, die Japaner in chinesischem Stil verfaßten. Das eindeutige Merkmal des kanshi liegt darin, daß die Texte durchwegs in chinesischen Schriftzeichen, den kanji, geschrieben sind, und daß die Verskunst sich strikt an die Regeln der kontinentalen Dichtung hält. Anders gesagt: das kanshi ist die von Japanern verfaßte Dichtung, die sich nicht der zwei Silbenschriften bedient, die um das 8.Jahrhundert aus der chinesischen Schrift entwickelt wurden, der hiragana und der katakana. Und es sei noch einmal wiederholt: die beiden Silbenschriften sind nicht nur das praktischste, sondern das eigentlich adäquate Mittel, die ganze Geschmeidigkeit der gesprochenen japanischen Sprache wiederzugeben. Und dennoch, die Lyrikform des kanshi, in einer wesentlich künstlichen Sprache, dem klassischen Sino-Japanisch, ist ohne Unterbrechung während mehr als tausend Jahren gepflegt worden, bis zum Beginn der Modernisierung Japans, sogar bis zum Ende des 19.Jahrhunderts. Eine erstaunliche Tatsache. Doch darüber will ich jetzt keine weiteren Worte mehr verlieren, sondern mich einem andern Thema zuwenden und Ihnen eine Gattung vorstellen, die sich außerhalb des kanshi, des waka und des haikai entwickelt hat. Es ist dies eine eigenständige Form, die in der Geschichte der japanischen Dichtung einen wichtigen Platz einnimmt, nämlich das kayo¯, die Gesangsdichtung, das heißt das traditionelle Volkslied. Rhythmus und Melodie sind gegeben, und in gewissen Fällen ist auch die instrumentale Begleitung festgelegt. Der Liedvortrag war oft verbunden mit Gestik und Tanz, und daher lag es in der Natur des kayo¯, daß zur Transkription des Textes eine Schrift unabdingbar war, die das gesprochene Japanisch wiedergab. Das erforderte selbstverständlich eine auf den kana basierende Notation, einen Schreibstil, der sich von jenem der chinesischen Gedichte wesentlich unterscheidet. Wenn einerseits der Akt des Singens strikt gewisse Regeln zu befolgen hat, so bietet er anderseits auch die Möglichkeit, formal und inhaltlich die gegebenen Regeln zu überschreiten und völlig frei, außerhalb des fixierten Rahmens, etwas Neues zu gestalten. Es ist also keineswegs erstaunlich, daß das japanische Volkslied im Lauf seiner langen Geschichte eine äußerst fruchtbare Entwicklung zeigt. Das kanshi kennt seit seinen Ursprüngen eine Reihe großer Dichter wie Sugawara no Michizane. Danach, während der tausendjährigen Geschichte, haben sich in jeder Epoche berühmte Persönlichkeiten in dieser Gedichtform profiliert. Eine Reihe buddhistischer Mönche, Konfuzianer, Gelehrte, aber auch Maler und andere Künstler, selbst Krieger, Politiker, Revolutionäre und sogar etliche Frauen haben kanshi verfaßt. Die Dichter der meisten Volkslieder Leseprobe