0

Politik der Unsterblichkeit

Vier Gespräche mit Thomas Knoefel

Erschienen am 18.02.2002
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783446201392
Sprache: Deutsch
Umfang: 208 S.
Format (T/L/B): 1.7 x 20 x 12 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Spätestens seit seinem Erfolg Über das Neue zählt Boris Groys zu den meistdiskutierten Autoren der zeitgenössischen Kunst und Philosophie. Seine Bücher handeln von Fragen der Medientheorie genauso wie von Problemen des Totalitarismus und der Religion. Ganz unmittelbar lässt sich dieser Denkstil in vier ausführlichen Gesprächen mit Thomas Knoefel nachvollziehen. Sie verknüpfen zentrale Begriffe von Groys` Denken: das Begehren, der Verdacht, der Tod und die Macht.

Autorenportrait

Boris Groys, 1947 in Ost-Berlin geboren, studierte in Leningrad. 1981 verließ er die UdSSR und lehrte seit 1994 Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Internationale Lehrtätigkeiten, zuletzt als Professor für russische und slawische Studien an der New York University. Bei Hanser erschien zuletzt: Einführung in die Anti-Philosophie (2009).

Leseprobe

Herr Groys, wir wollen heute über einige elementare Fragen und Grundprobleme der Philosophie sprechen. - Deleuze und Guattari schreiben in ihrem letzten Buch, dass die "Frage Was ist Philosophie? sich erst spät stellen lässt, wenn das Alter naht und die Stunde, um konkret zu werden &133; gegen Mitternacht, wenn es nichts mehr zu fragen gibt". Auch wenn, wie ich annehme, Sie einer solch romantischen Formulierung nicht zustimmen würden, und ohne zu wissen, ob einem von uns die Stunde naht, möchte ich das Gespräch eröffnen mit der Frage: Was ist Ihr Verständnis von und Ihr Antrieb zur Philosophie?

Ich kann diese Frage mit einem Wort beantworten: Selbsterhaltung. Ich meine hier: das Streben nach Unsterblichkeit. Und als Mittel: die Selbstpositionierung im philosophischen Feld. Die philosophischen Fragen sind von der Art, dass sie nicht beantwortet, nicht erledigt werden können. Sie können nicht aufhören, sie werden nie gelöst, und man wird von ihnen auch nicht erlöst. Dadurch unterscheiden sich die philosophischen Fragen etwa von den wissenschaftlichen Fragen. Die wissenschaftlichen Fragen werden irgendwann beantwortet, oder sie werden anders formuliert. Auf jeden Fall sind die wissenschaftlichen Fragen endlich, sterblich. Die Wissenschaft vergeht - damit vergehen aber auch alle individuellen Beiträge zur wissenschaftlichen Forschung: Sie bleiben, wenn überhaupt, nur als Gegenstände einer spezifischen Wissenschaft erhalten - nämlich der Wissenschaftsgeschichte. Dagegen sind die philosophischen Fragen ihrem Wesen nach nicht beantwortbar - und damit unsterblich. Diese Fragen markieren einen geschichtlich stabilen Sprachraum, in dem individuelle Diskurse ihren Platz finden und ihre Gültigkeit dauerhaft erhalten. Dieser Sprachraum der Philosophie ist sogar stabiler als Kunsträume, die doch auch eine längere geschichtliche Dauer beanspruchen, denn unser Verhältnis zur Kunst wird weitgehend von der jeweils herrschenden Mode diktiert. Für die Wahrnehmung eines literarischen Texts ist seine Form entscheidend - unsere ästhetischen Präferenzen ändern sich aber mit der Zeit. Nun darf der Philosoph durchaus schlecht, unschön, ungeschliffen und sogar unverständlich schreiben und sprechen - und kann trotzdem als ein wichtiger Autor gelten und einen prominenten Platz im Sprachraum der Philosophie bekommen. Das ist ein kaum zu unterschätzender Vorteil. Der Sprachraum der Philosophie verortet und bewahrt unsere Diskurse unabhängig davon, ob sie entsprechend dem aktuellen Stand der Wissenschaft formuliert sind oder nicht, ob sie schön klingen oder nicht. Dieser Raum, der gleichermaßen für all diejenigen offen steht, die in ihn eintreten wollen, die philosophieren wollen, gibt uns die Möglichkeit, uns in ihm frei zu positionieren und dauerhaft - eigentlich für eine unendliche Zeit - einzurichten. Dabei möchte ich unterstreichen, dass man sich erst dann ernsthaft der Philosophie oder der Kunst widmet, wenn man nicht ernsthaft an eine außerkulturelle, außergeschichtliche, ontologische Garantie der Unsterblichkeit glaubt. Wer an Gott, den Weltgeist, das Sein, das Unbewusste oder etwa an den absolut Anderen glaubt, der braucht sicherlich nicht philosophische Diskurse zu entwickeln oder Kunstwerke zu schaffen, die für die Dauer angelegt sind. Dann reicht die ontologische Garantie allein, der man vertraut, dass sie auch ohne eine Intervention dem Untergang aller Dinge Einhalt gebietet. Wer aber in Bezug auf die ontologische Garantie der Unsterblichkeit zum Skeptizismus neigt und trotzdem für die Unsterblichkeit optiert, der beginnt, die Politik der Unsterblichkeit oder zumindest die Politik der langen Dauer zu praktizieren. Er beginnt nämlich, dafür zu sorgen, dass bestimmte Diskurse - und seien es auch die Diskurse über Gott oder das Unbewusste - strategisch positioniert werden, erhalten werden, institutionell verankert werden. Eine grundsätzliche Op ... Leseprobe