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Die Krümmung des Horizonts

Mit einer Bergsteigerin im Himalaya

Erschienen am 26.08.2006
15,90 €
(inkl. MwSt.)

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783446207813
Sprache: Deutsch
Umfang: 175 S.
Format (T/L/B): 1.8 x 20.4 x 12.9 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Worin liegt die Faszination des Bergsteigens? Der Schriftsteller Erri de Luca - mit über fünfzig Jahren selbst zum Alpinisten geworden - unterhält sich mit Nives Meroi, einer der drei Frauen, die über die Hälfte aller Achttausender bestiegen haben. Beiden geht es nicht um Rekorde, nicht um das "Bezwingen" der Berge. Ihre nächtlichen Gespräche im Zelt handeln von der Mühsal des Bergsteigens, von Abenteuern und tödlichen Gefahren und vom Gipfel, der nicht Ziel, sondern erst die Hälfte der Reise ist. Ein Buch, das wichtige Fragen des Lebens berührt und auch die in Bann schlägt, die die eisigen Höhen lieber vom Tal aus betrachten.

Leseprobe

N: Du sprichst von Schönheit, wo ich quälende Mühsal sehe und Erleichterung nur, wenn diese Mühsal aufhört. Für mich ist Schönheit das letzte Zelt in der Höhe, wo wir uns am Abend vor dem Gipfel zusammendrängen. In den Schlafsack stecken wir alles, was am nächsten Morgen lauwarm sein muß, auch das Innenfutter der Stiefel, und wenn starker Frost herrscht, müssen wir nicht einmal mehr wissen, wie kalt es ist. Wir sind nicht auf Zahlen fixiert, minus dreißig, minus vierzig Grad, was macht das für einen Unterschied, wenn man es weiß? Nicht schön ist die Schlaflosigkeit im letzten Zelt, aber so lautet unsere Vereinbarung, wir müssen die letzte Stufe des Riesen bezwingen, und er wird uns wärmen. Wir steigen schnell auf und kommen zum zweitenmal auf der Höhe des letzten Zeltes an. Vorher sind wir nur aufgestiegen, um das Zelt dort oben zurückzulassen und in der letzten Nacht mit etwas weniger Gewicht wieder dort anzukommen. Nachdem wir es an einer sicheren Stelle aufgeschlagen haben, steigen wir zum Basislager hinunter, um auf eine gute Wettervorhersage zu warten. Wenn das Wetter gut wird, brechen wir zum Gipfel auf, zwei Nächte in der Wand und der dritte Tag für den Gipfel und den Beginn des Abstiegs. Die Nacht im letzten Zelt ist kurz, ich kann nur gähnen. Im Geist zähle ich die notwendigen Handgriffe auf, weniger aus Angst, etwas zu vergessen, als um zu prüfen, ob der Kopf noch funktioniert. Das Gehirnödem zeigt sich daran, daß man vertrottelt. Dann beginnt die letzte Stunde vor dem Morgengrauen mit dem großen Durcheinander beschwerlicher Bewegungen in der Enge des winzigen Zeltes, wo wir uns zu dritt, in dick wattierter Kleidung, auf den Beginn des entscheidenden Tages vorbereiten. Mindestens eine Stunde brauchen wir, um uns schnaubend allerlei Vorbereitungen zu widmen. Dann sind wir endlich draußen, können das tun, worauf wir uns am besten verstehen, klettern. Die Plumpheit des beengten Raumes verfliegt, wir stehen auf vertrautem Boden, und während der nächsten Stunden werden meine Steigeisen und Eispickel zu Krallen, ich bin ein Tier in meinem eigenen Territorium. Die Leere nimmt zu, der Berg zieht sich zusammen, wird enger und drückt sich zum Gipfel empor. Die Erde endet, man wandert an der Grenze zwischen zwei Reichen entlang. Der Gipfel ist eine perfekte Grenze, das Ende der Erde, die Schönheit. Diese Schönheit ist unter meinen Füßen, und ich blicke meistens nach unten zwischen meine Stiefel, bevor ich die dreihundertsechzig Grad Horizont um mich herum betrachte. Der Gipfel ist nicht das endgültige Ziel, denn dort bist du noch nicht fertig, du mußt wieder absteigen, hast noch mindestens zwei Tage Anstrengung und Konzentration vor dir. Aber er ist der Abschluß der Schritte, mit denen du dir den Aufstieg erobert hast. Ich empfinde eine physische Dankbarkeit für meine beiden Füße und sehe ihnen zu, wie sie mit den Eisen in den letzten Meter eines Achttausenders beißen. Schön ist es auch, auf dem Gipfel stehenzubleiben, sich umzuschauen. Dann erledigen wir unsere Pflichten des Dokumentierens und halten in einer Luft, die zwei Drittel weniger Sauerstoff enthält, aber von einem blendenden Licht erfüllt ist, Photogramme fest. Schön ist es auch, sich hinzusetzen, nach Luft zu schnappen und sich ein paar Minuten völligen Stillstands zu gönnen. Mehr nicht, die Maschine darf nicht kalt werden, sie darf sich nicht vom Schlafbedürfnis überwältigen lassen, das dich dort oben in Versuchung führt, aber tödlich ist. Das ist schon der ganze Gipfel, ein kurzer Besuch. Von seinem Besuch auf dem Everest kehrte Jean Marc Boivin mit dem Paraglider zurück, den er mit nach oben genommen hatte. Schon nach kurzer Zeit kam er dreitausendfünfhundert Meter tiefer am Basislager an. Ich habe bis jetzt noch nicht den Wunsch gehabt, schnell wegzukommen, den Abstieg zu überspringen. Der Abstieg gehört zum Aufstieg, du hast ihn dir verdient, und du mußt ihn mit derselben Präzision durchführen wie den Aufstieg, freilich mit gerin ... Leseprobe

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